Die ganze Wahrheit. Zu Fotografien von Mona Breede

Rund um das Tor begegnen sich Menschen, zufällig und ohne sich wahrzunehmen. Nur ein Paar scheint verabredet und begrüßt sich etwas verkrampft, die anderen stehen verloren herum oder gehen in Gedanken ihrer Wege. Eine Alltagsszene. Das Tor als Ort der Begegnung und des Ausharrens. Ein Mann vertreibt sich die Zeit, indem er Nachrichten auf seinem Mobiltelefon prüft. Auf wen er wartet, werden wir nicht erfahren. Im Hintergrund sehen wir einen Vater in Begleitung seiner Tochter, unterwegs, auf unsere Seite des Triumphbogens zu kommen. Die Frage ist nur, ob die beiden Welten vor und hinter dem Triumphbogen, wie von der Künstlerin visuell behauptet, auch tatsächlich ineinandergreifen. Denn heimlich beschleicht einen der Verdacht, die kubische Architektur aus der Zeit des Faschismus, die im Torraum sichtbar wird, könnte sich in Wahrheit doch ganz woanders befinden als die Kulisse des Vordergrundes. Auch wenn eine Frau mit Sonnenbrille, die vor dem gewaltigen Holzportal steht, ihren Blick in die Ferne richtet, macht der Ausblick eher den Eindruck eines gemalten Bühnenprospekts. Was ist hier jetzt noch Alltag, was Theater? Und wie verhält es sich mit den Möglichkeiten der Fotografie, zeitlich auseinanderliegende Ereignisse in einem Bild zusammenzubringen?

Die Energie der Metropolen erscheint als Inbegriff einer Wirklichkeit, in die wir mit Haut und Haar eintauchen können. Dichtgedrängt und stets am Rande des Chaos fluten Autos, Züge, Menschen auf verschiedenen Ebenen über und unter Tage. Kaum etwas ist realer, als selbst Teil dieses Stroms zu sein, mittendrin in New York, Paris oder Shanghai. Umso eigenartiger kann das Großstadtleben wirken, tritt man einen Schritt zurück und betrachtet es als Außenstehender. Plötzlich bekommt manche Bewegung der Passanten, manches Aufeinandertreffen, manch vergessene Straßenecke etwas Irreales, das sich auch in der Fotografie, diesem Medium der Distanzierung, bestens einfangen lässt. Mona Breede hat sich in ihren Bildern weder die hautnahe Vitalität noch die surreale Ebene des Urbanen vorgenommen. Sie nutzt die oft übermächtige, gelegentlich prominente Architektur als Kulisse für den Auftritt ihrer anonymen Protagonisten, die keineswegs Teil einer gedrängten Masse sind, wie es die Großstadt vermuten ließe, sondern vereinzelt, gezielt ausgewählt in Erscheinung treten.

Dieser Eindruck täuscht nicht, denn tatsächlich hat die Fotografin die Orte jeweils mehrfach aufgesucht und dabei Aufnahmen von Passanten gemacht, denen sie nachträglich via Bildbearbeitung Einlass in ihre Szenarien gewährte. Dadurch wurde sie zur Choreographin von Inszenierungen, die den Zufall weitestgehend ausschließen. Die Beziehungen zwischen den Gestalten in diesen Bildern sind vollständig den Vorstellungen Mona Breedes entsprungen. Manche der Personen waren vielleicht wirklich vor Ort, jedoch nicht zur selben Zeit. Manche wurden auch ganz woanders in der jeweiligen Stadt aufgelesen und für einen neuen Einsatz durch die Fotografin präpariert. Es gibt damit keinen Aufnahmeort und vor allem keinen Aufnahmezeitpunkt mehr, sondern lediglich eine unbestimmte Reihe von Aufnahmezeitpunkten, deren Anzahl und chronologischer Abstand sich nach der digitalen Komposition, nach der Verschmelzung der Schichtungen, nicht mehr rekonstruieren lassen.

Mona Breede unterläuft damit ein Charakteristikum, das üblicherweise mit der Fotografie assoziiert wird: Ihre Entstehung in einem einzigen Sekundenbruchteil. Ihre Bilder entspringen mehrerer solcher Momente. Und sie werden erst nachträglich zu einem Ganzen, das jedoch die Diskrepanzen von Zeit und Raum noch erahnen lässt. Damit steht sie in einer langen Tradition von Fotokünstlern, die die technischen Beschränkungen der Fotografie überlisteten, beziehungsweise sich über eine puristische Doktrin von „reiner“ Fotografie hinwegsetzten. Collagen aus mehreren Negativen gibt es, seit es Fotografie gibt. Bereits in der Frühzeit des Mediums, in der Mitte des 19. Jahrhunderts, machten eine Reihe von Fotografen ihren künstlerischen Anspruch auch dadurch geltend, dass sie die pure Erfassung und Besitzergreifung der Umwelt nicht als primäre Herausforderung begriffen, sondern das kompositorische Element teilweise bis zum Exzess ausreizten. Die Bühnenräume eines Oscar Rejlander wurden aus bis zu dreißig Negativfragmenten arrangiert, die Landschaften eines Gustave Le Gray durch Wolkenarrangements dramatisiert, die Interieurs eines Henry Peach Robinson nach strengen Gesetzen komponiert, die der Künstler aus der Malerei ableitete. Der Vorwurf des Artifiziellen und Manipulativen hat schon damals eine unfruchtbare Debatte beflügelt, die sich berufen fühlte, darüber zu urteilen, was Fotografie leisten könne und dürfe.

Auch dass sie als unzuverlässiges Medium zu gelten hat, wenn es um Dokumentation geht, ist unendlich oft beklagt worden. Diese Kritik, die gelegentlich an Empörung grenzt und noch immer nicht ganz verstummt ist, ja in Zeiten sogenannter „investigativer“ Ambitionen erneut aufflackert, beruht selbstverständlich auf einem Missverständnis. Denn wir als Betrachter sind es, die dazu neigen, der Fotografie mehr Glauben zu schenken, als etwa der Malerei, nur weil sie vorgeblich die Wirklichkeit ablichte. Ein Medium an sich allerdings kennt keine Moral und hat auch keinen Eid geleistet, subjektiv, objektiv oder sonstwie zu agieren. Die Realität kann wie ein Gemälde erscheinen, ein Gemälde wie eine Fotografie, eine Fotografie wie die Realität. Täuschungen allerorten. Stets gehäuft dort anzutreffen, wenn es um Kunst geht. (...)

Was in diesen Collagen etabliert wird, ist weniger der urbane Raum, vielmehr das Spannungsfeld des Zwischenmenschlichen. Mona Breede strebt nicht nach der Reportage, sondern nach der Offenlegung übergeordneter Strukturen, nach Allgemeingültigkeit. Damit sind ihre Bilder den moralischen Allegorien eines Oscar Rejlander auch inhaltlich näher, als es zunächst scheinen mag.

Gegenwärtig ist weit mehr von Kommunikation, weniger von Inhalten dieser Kommunikation die Rede. Es scheint relevanter, wo man sich aufhält, als was man dort, wo man sich aufhält, tut. Das Internet als virtueller Ort ist längst zum Selbstzweck geworden und scheint auf dem besten Wege, eine vermeintlich eigene Kunst zu generieren. Wo man früher von Porträt- oder Landschaftsfotografie sprach, ist heute immer häufiger von Netzfotografie die Rede, als sei das Internet an sich schon ein Genre. Die Themen, die es mit sich bringt, sind zwar auf eine neue Stufe katapultiert, im Grunde aber uralt: Anonymität in der Masse, soziale Kontrolle, totale Erfassung mit allen ihren positiven und negativen Aspekten. Entsprechend den technisch neuen Kommunikationswegen hat sich auch das Medium Fotografie in digitalen und netz-affinen Zeiten in technischer Hinsicht gewandelt. Dass dadurch wesentliche neue Inhalte zur Sprache gekommen wären, lässt sich bislang nicht ausmachen. Unbestritten hat das Netz die Distributionswege verändert und manch etabliertes Refugium unterlaufen. Übersehen wird dabei gerne, dass Vermarktung allein noch keine Substanz garantiert. (...)

Boris von Brauchitsch
Auszug aus dem Katalogbeitrag zum Hanna-Nagel-Preis 2013

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